16
Mai
2007

Ad fontes! - Genuss versus Leidenslust

Lästige Sprichwörter, von "Morgenstund hat Gold im Mund" über "Wer rastet, rostet" bis zu "Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf übermorgen" künden uns stets mit moralinsaurer, lähmender Bleivergiftung davon, dass man den Tag pflücken soll. Schließlich ist es, egal welcher Ideologie zufolge, stets das Schaffen (von was auch immer), das uns zu dem macht, als was wir uns gerne sehen: nämlich als Krönung der Evolution.

Dass Masse aber träge ist, und dass es sich dabei um kein rein physikalisches Gesetz handelt, wissen wir nicht erst seit Newton. Selbstredend haben sich schon unsere greco-romanischen Kulturahnen erschöpfend damit auseinander gesetzt und und neben vielen schönen Sinnsprüchen wie etwa Iucundi sunt acti labores auch viel gescheites dazu verfasst.

Das Phänomen der destruktiven Arbeitsaufschiebung aber hat inzwischen sogar einen hübschen neudeutschen Namen - Prokrastination - und von WissenschafterInnen über Selbsthilfegruppen bis zu Satirikern wie Max Goldt beschäftigt es mittlerweile offenbar sogar mehr ZeitgenossInnen als die TheistInnen-AtheistInnen-Debatte. Goldt etwa fragt sich, ob Prokrastination eine Vorstufe der Depression ist, und meint dazu: Man beginne mit der aufgeschobenen Aufgabe deshalb erst gar nicht, weil man Angst hätte, an einen Punkt zu kommen, an dem man nicht mehr weiter weiß, und bemühe daraufhin die Lebenslüge, dass Genie erst unter Druck entstünde.
Hat frau einmal begonnen, sich gedanklich mit Prokrastination zu beschäftigen, wähnt sie sie schnell allgegenwärtig. Pop-Liedchen etwa handeln davon, und Scarlett O`Hara beendet Vom Winde Verweht mit dem Ausruf: "Morgen ist auch noch ein Tag!"

Ist Prokrastination die Frage unserer Zeit? Ist sie Trend, Zeitgeist, oder Evergreen?

Wenn ich das aktuelle Gerede von Selbstbetrug und Versagen so betrachte, wende ich mich lieber wieder den Ursprüngen zu: Carpe diem wurde nämlich nicht von einem an die Pflichten gemahnenden Oberlehrer geprägt, sondern ist die von Horaz latinisierte Lebensphilosophie eines gewissen Epikurs, der die Lust am Leben lebte und für ein Genießen im Hier und Jetzt plädierte. So gesehen wäre Prokrastination schlicht lebensverneinender Masochismus - und wer will das schon auf sich laden?

- Antonina
Dida (Gast) - 16. Mai, 11:49

Ein sehr schöner Kommentar zu einem spannenden Thema, Antonina!

Das schöne an der Prokrastination ist aber doch, dass man ja nicht untätig bleibt. Wie Max Goldt ebenfalls erwähnt, würde ein schlicht fauler Mensch einfach bis 11, 12 Uhr im Bett liegen, während der Prokrastinat bereits um 8:30 Uhr Küchenkästchen auswischt, ins Fitnessstudio geht oder sich so ausgiebig wie nie der Wochenendbeilage der Zeitung widmet.
Als bekennender (wenn auch vielleicht nicht typischer) Prokrastinat möchte ich bemerken, dass man sein prokrastinativen Phasen durchaus (wenn auch mit schlechtem Gewissen) genießen kann...

Ausserdem möchte ich auf die Richtigkeit des Sprichwortes "Papierkram erledigt sich von allein" hinweisen und den Papierkram sogar auf allen möglichen Kram ausweiten, wenn man ein bisschen Talent zur latenten Organisation hat...auch würd ich vielen raten ihre geistigen wie auch schriftlichen ToDo-Listen einfach mal wegzuwerfen. Das befriedigende Gefühl, eine Todo-Liste abgearbeitet zu haben, kenne ich. Leider kommt mit diesem Gefühl die bittere Erkenntnis anher, dass es bereits morgen eine neue Liste mit Aufgaben und Pflichten geben wird. und da vergeht mir dann jede Lust, diese auch noch aufzuschreiben, sondern freue mich stattdessen auf einen prokrastinativen nächsten Tag ;-)

wienermischung - 16. Mai, 14:48

Du streichst den Lustfaktor des Ganzen heraus - als solches bist du sicherlich kein typischer Prokrastinat, Prokrastinator oder Prokrastinierer, aber ein einstellungsmäßig echt vorbildhafter :)

Darum geht es mir ja; mir kommt es so vor, als gäbe es momentan eine Tendenz, Dinge zu problematisieren. Derart aufgeblasen bzw. verformt und grell beleuchtet, werfen sie große, Respekt einflößende Schatten, und man vergißt, dass man sie auch ganz anders betrachten kann.

- Antonina
yvonne erber - 8. Sep, 01:58

ja, genau – "Morgenstund", das ist die mit dem "Gold"!

und das glück ist dir dann auch hold, wenn...
und der rohe (rote?) apfel fällt natürlich...
auf die lange bank geschobene...
einmal blau gemacht, immer eine...
wer allerdings in die ferne schaut, der ...
blaß oder auch blau ist die...
und blaue wunder sind wirklich nicht...
allerdings: der blaue dunst...
soll ich mich deshalb aber grün und blau...

gut, liebe antonina, ich pflücke am liebsten die Prokrastination, die bei mir – in meiner selbsteinschätzung – keineswegs etwas mit Depression zu tun hat.
trotzdem: es gibt ja immer etwas an sich auszusetzen: ideologie, selbstkrönung, umdeutung des goldenen schritts auf egoistische, wenn nicht autistische weise.
dazu passt, dass ich am liebsten aufrecht vorm spiegel steh, wenn mir nichts einfällt, mir in die augen schau und dabei ...

um ehrlich zu sein: mir käme dabei das wort Prokrastination gar nicht in den sinn.
nicht von selbst.
ich habe normalerweise keine bis gar keine luft.
die woche ist durchgeplant.
alles wiederholt sich, mehr oder minder, mit kleinen abweichungen.
es gibt zwei bis drei ablieferungstermine.
es gibt zwei bis drei männer – der eine mit herzbeschwerden, der anderen mit rückenproblemen; und der dritte mit anscheinend genug geld.
deren glossen werden mir immer wieder angedient.
jedesmal € 100,- plus - da kann ich nicht nein sagen..

also so schauts bei mir aus mit der Prokrastination: mein spielraum wäre von freitag 18 uhr bis maximal samstag 14 uhr.
ablieferung am montag bedeutet am arbeit am wochenende bis montag 2 oder 3 uhr.
ablieferung am donnerstag heisst nachtarbeit bis in dessen frühe morgenstunden hinein.
aber wo bleibt das Gold?

das schlafen würde ich dann gern aufschieben.
denn um 5 uhr beginnt der lärm vorm hotel nebenan.
um ½ 7 steht die nachbarin unter mir auf und schreit so lange, bis ihre beiden mädchen endlich die wohnung in richtung schule verlassen haben, also ein stunde.

allerdings äussert sich Prokrastination doch recht sichtbar an den aufbauten in meinem zimmer.
aufgeschobene artikelauslesearbeit.
übereinandergetürmte bücher mit eingelegten zettelhinweisen.
angebotsprospekte und versandhäuserkataloge.
der tisch vor der sitzbank ist seit monaten nicht mehr verrückbar, wächst sozusagen zu.

aufgeschoben werden meist alle männertermine.
gestrichen sind diese woche – da ich noch eine rede für das wochenende vorbereite – auch das fitnessstudio und jede verführung zu einem restaurant- oder kinobesuch.

ich gestehe, ich bin auch – vormittags und am nachmittag bis 2, 3 Uhr - stark motivationsabhängig.
als rechtshänderin zuckt mir der linke daumen, wenn es so weit ist.
aussserdem jucken die wetterfühligen schnittwundennarben auf meinem linken unterarm.

ich brauche leider immer einen fluchtpunkt, in dem eine idee auftaucht, die mich dann kitzelt und mit versprechungen traktiert.
der witz daran ist, dass es erfindungsreiche querlinien, überraschende kehrtwendungen und doppeldeutige blitzlichter auf mich selbst geben muss.
das nährt meinen perfektionismus.

glauben sie mir, manchmal hätt ich gern irgendeinen toten vielschreiber mittels elektroschock zum leben erweckt.
und ich hätte auch nichts gegen ein ausführliches fleischliches entgegenkommen meinerseits, würde er mir diese qual der ideenlosigkeit durch ausdauernde hilfsaktionen verkürzen!
im idealfall stell ich mir das so vor: mit der linken schreibt er an meiner stelle, mit der rechten bedient er mich!

liebe grüsse

MARIASPILUTTINI