Die sogenannte Anonymität in der Großstadt ist eigentlich etwas, das ich sehr schätze. Jahrelang habe ich in einem Haus gewohnt, ohne im Treppenhaus auch nur irgendeinem der Nachbarn zu begegnen, geschweige denn den Namen an der Gegensprechanlage auch nur ein Gesicht zuordnen zu können.
Andere Häuser, andere Sitten.
Und an der Wiener Peripherie herrscht Kleinstadtmentalität. Dort gibt es ein Haus, in dem ich gerne zu Gast weile. Wie es der Zufall so will, bin immer ich es, die dort an die Tür geht, wenn der selbst ernannte Hausvertrauensmann an der Tür klingelt. Neulich hat er das ganze Haus an einem Sonntag vor 9 Uhr früh herausgeklingelt, weil nun der geeignete Zeitpunkt sei, endlich die Heizkörper zu entlüften, auf dass sie nicht mehr pochen. Dieses sei, so erklärte mir der rüstige Endsechziger, unbedingt synchron zu erledigen, weshalb die Anwesenheit aller Hausparteien erforderlich und Sonntag früh der einzig mögliche Zeitpunkt dafür sei.
Habe ich besagten Pensionisten zu diesem Zeitpunkt zwar als schlichtweg unmöglich, aber noch als rührig empfunden, weil ich als Leichtschläferin verstehen kann, wie lästig einem pochende Heizkörper aus der Nachbarwohnung werden können, so habe ich heute meine Meinung geändert.
Es klingelt, und wieder öffne ich in der fremden Wohnung die Tür. Ob die gnädige Frau wisse, ob der Wohnungsinhaber noch die Presse beziehe. Die gnädige Frau bedauert, aber Die Presse sei ihres Wissens schon vor Monaten abbestellt worden. Dann vielleicht den Standard. Bedaure, sage ich, und wundere mich ein bisschen, ich hätte ihn nämlich für einen Kronenzeitungleser gehalten.
Ach so, dann hätte sich die Frage erledigt. Weil nämlich, er müsse jetzt auf die Polizei, eine Anzeige erstatten, wenn sich der Schuldige nicht findet. Warum, frage ich verdattert, stiehlt Ihnen jemand die Presse von der Fußdacke? Nein, sagt er, aber die Ausländer.
Die Ausländer?
Ja, die Ausländer. Die haben einen Schüssel, und das geht so nicht. Schließlich ist auf der Vollversammlung beschlossen worden, eine so teure Briefkastenanlage anzuschaffen, dass die nicht mehr hereinkommen. Weil mit dem Schlüssel, da kommt man ja überall hin. In die Garage, in den Keller, in die Waschküche, zu den Fahrrädern. So geht das nicht. Wie soll man sich denn da vor Dieben schützen? Und, gnädige Frau, ich weiß, dass die einen Schlüssel haben. Ich hab sie neulich abgepasst. Um vier Uhr hab ich mich auf die Lauer gelegt. Wer hat Ihnen den Schlüssel gegeben, hab ich gesagt. Sie haben kein Recht, hier hereinzukommen, hab ich gesagt. Aber sie haben mir keine Antwort gegeben. Vermutlich haben die mich nicht verstanden. Und überhaupt, es gibt jemanden im Haus, der sperrt die Tür nie zu. Dabei ist auf der Vollversammlung beschlossen worden, dass die Tür ab 20h versperrt sein muss, zum Schutz der Bewohner. Aber, gnädige Frau, Sie brauchen sich keine Sorgen machen. Ich kontrolliere das immer. [...]
Ich mache mir aber Sorgen! Wer rettet mich vor diesem Pensionisten?
- Antonina
wienermischung - 20. Feb, 19:16